Märchen der Gebrüder Grimm

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Aschenputtel in der Interpretation

Die Geschichte beginnt traurig: Die Mutter von Aschenputtel stirbt, nachdem sie ihr die Botschaft mit auf den Weg gegeben hat:

„Liebes Kind, bleib fromm und gut, so wird dir der liebe Gott immer beistehen, und ich will vom Himmel auf dich herabblicken und will um dich sein.”

Zunächst glauben wir, dass vom lieben Gott so gar nichts zu spüren ist, denn das Schicksal schlägt für Aschenputtel hart zu: Eine böse Stiefmutter und ihre grässlichen Töchter demütigen und verhöhnen Aschenputtel. Sie wird in einfache Kittel gekleidet und muss als Dienstmagd dienen. Dies ist der Ausgangspunkt der Geschichte und darin ist eine wichtige Information verborgen. Sie teilt uns die seelische Verfassung eines Kindes mit, das zu wenig mütterliche Nähe erfährt, sei es, dass die Mutter tatsächlich nicht anwesend ist oder sei es, dass die Mutter den spezifisch mütterlichen Einfluss nicht aufbringen kann. Die Auswirkungen können bis weit ins Erwachsenenleben hineinreichen und äußern sich bei einer erwachsenen Frau in einem Empfinden, wie es das Bild von Aschenputtel erahnen lässt; nämlich arm und schutzlos zu sein, von niemandem geliebt zu werden, nicht die Kraft zu haben, für sich selbst einzutreten und im Leben einen Platz in der Asche zugewiesen zu bekommen.

Ein Vater kann an diesem kläglichen Grundempfinden nichts ändern, so teilt uns das Märchen mit. Er kann den fehlenden mütterlichen Einfluss für die Entwicklung seines Kindes nicht kompensieren, im Märchen dadurch ausgedrückt, dass der Vater nichts tut, um Aschenputtel beizustehen.

Das Märchen sagt uns nun, wie es jeder Frau gelingen kann, ihre Situation von Grund auf zu verändern. Es sagt, was zu tun ist, um gewaltige Kräfte zu mobilisieren, mit denen sie sich aus ihrer deprimierenden Lage befreien kann, um danach stabil und selbstbewusst ihren Platz im Leben einzunehmen; ausgestattet mit der nötigen Kraft und Härte, sich auch gegenüber bösen Anfeindungen zu behaupten. Es gibt uns eine Anleitung, wie jede Frau, die sich als Aschenputtel fühlt, zu einer strahlenden Prinzessin werden kann.

Zurück zum Ausgangspunkt unserer Geschichte. Aschenputtel so scheint es, lässt willenlos die bösen Machenschaften ihrer Stiefschwestern mit sich geschehen. Beim Lesen möchte man ihr am liebsten zurufen, „Warum lässt du dir das gefallen? Warum lässt du dich so demütigen? Setz dich zur Wehr, biete den grässlichen Stiefschwestern die Stirn!" Doch genau das kann Aschenputtel noch nicht. Ihr fehlt das nötige Selbstvertrauen, das erst unter dem schützenden Einfluss einer Mutter wachsen kann. So hat sie keine andere Chance, als sich passiv zu fügen. Ihr einziger Zufluchtsort ist das Grab der Mutter, das sie dreimal am Tag aufsucht, dort weint und betet.

Frauen, die an einem solchen Tiefpunkt des Lebens angelangt sind rät das Märchen, nicht verzweifelt gegen die Situation anzukämpfen, denn sie könnten eh nichts ausrichten. Vielmehr sollten sie einfach tun, was ihnen aufgetragen wird, auch wenn es schwer fällt; ganz so, wie Aschenputtel seine Aufgaben übernimmt. Aber, was immer uns aufgetragen wird, sollten wir erledigen, ohne unsere Würde zu verlieren. Aschenputtel verhält sich trotz ihres traurigen Loses als das, was sie von Natur aus immer war und sein wird, als Prinzessin. Genau das gefällt den bösen Schwestern natürlich gar nicht und sie verhöhnen sie. Es ist sogar zu vermuten, dass sie in Aschenputtel einen feineren, edleren und vor allem besseren Charakter gespürt haben. Damals wie heute ein ausreichender Grund, einen Menschen nieder zu machen. Heute nennen wir dies Mobbing. Wenn jemand aufgrund seiner Gesinnung höher steht als die Masse, jedoch keine Macht über sie hat, wird er von ihr verspottet. So ging es Aschenputtel. In einem solchen Fall gibt das Märchen einen klaren Rat:

Man sollte sich gerade nicht auf die Stufe der anderen stellen und anfangen zu zanken. Vielmehr sollte man und nun kommt ein unpopuläres Wort, demütig den Platz annehmen, der einem zugewiesen wird und auf die Hilfe Gottes vertrauen. Demütig sollte man das Unvermeidliche hinnehmen aber, und darauf kommt es an, sich nicht unterkriegen lassen, seinen Stolz, seine Gesinnung und seine Klasse bewahren ganz gleich wie erniedrigend die Ecke auch sein mag, in die einen das Schicksal hinein drängt. Ganz gleich auch, wie viel Zeit verstreichen muss, ehe eine Erleichterung in Sicht ist.

So traurig diese Situation auf der einen Seite ist, so steckt in ihr auch eine Chance, denn sie kann auf der anderen Seite der Vorbote, der Keim für eine Zukunft sein, die so wünschenswert ist, wie die Gegenwart unerträglich ist.

Nur in einer dunklen Zeit kann etwas grundsätzlich Neues beginnen. Jeder kennt den Kinderreim: ,,Wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her.“ Dieses Licht ist im Märchen symbolisiert durch das Reis, also den Zweig vom Haselnussbaum, um den Aschenputtel den Vater gebeten hatte:

„Das erste Reis, das Euch auf Eurem Heimweg an den Hut stößt, das brecht für mich ab.”

Dies ist eine wichtige Information, denn wenn wir unsere Situation von Grund auf ändern wollen, so kommt es darauf an, einen Keim für etwas Neues zu pflanzen und dafür zu sorgen, dass er kräftig wächst. Genau das tut Aschenputtel. Sie pflanzt den Zweig, den ihr Vater ihr mitgebracht hat auf das Grab der Mutter, geht jeden Tag dorthin, weint und betet. Was heißt das nun für uns?

Es kommt darauf an, eine Auszeit von allen weltlichen Dingen zu nehmen und nach innen zu schauen. Wenn ich in meiner äußeren Welt etwas Neues entstehen lassen will, so beginnt eine solche Veränderung im Inneren des Menschen. So wie jeder Same zunächst in der Erde Wurzeln schlagen muss, bevor ein Pflänzchen sichtbar wird. Jetzt heißt es, den Mut aufzubringen und mich mit mir selbst auseinandersetzen, nicht vor mir selbst weglaufen, sondern der Wahrheit ins Gesicht blicken, so schmerzhaft sie auch sein mag.  Dann fühle ich, was mir fehlt, und  es fließen in der Regel Tränen, doch es sind gesunde Tränen. Durch die Intensität unserer Gefühle kommt etwas in uns selbst in Bewegung, und es wird eine Kraft frei, die so stark ist, dass sie unsere gegenwärtige Situation ändern kann.

Bei diesem Prozess spielt der Vater nun doch eine Rolle und zwar eine ganz entscheidende. Er ist derjenige, der Aschenputtel den Zweig bringt, es ist ein Zweig, der ihm an seinen Hut gestoßen ist. Mit diesem Bild will uns das Märchen auf den Beitrag eines Vaters zur Entwicklung seines Kindes aufmerksam machen, und es wird deutlich, dass es sich um einen ganz anderen Beitrag handelt als den, den die Mutter leistet. Der Hut steht für den geistigen Horizont oder auch das Bewusstseinsniveau des Vaters. In der kindlichen Entwicklung ist es ist die Mutter, die für die Bewusstseinsentwicklung ihres Kindes sorgt. Bis zu welcher Höhe diese Entwicklung ablaufen kann, bestimmt im übertragenen Sinne der Hut des Vaters.

Der Vater bringt Aschenputtel nicht irgendeinen Zweig mit sondern den eines Haselnussbaumes. Auch darin liegt eine besondere Bedeutung denn die Haselnuss ist eine kleine Frucht mit einer harten Schale. Damit erfahren wir, welches Ergebnis wir nach einem erfolgreichen Entwicklungsprozess erwarten dürfen. Er macht Aschenputtel und jede andere Frau die diesen Entwicklungsprozess geht, zu einer stabilen widerstandsfähigen Persönlichkeit, im übertragenen Sinne zu einer harten Nuss.

Wieder zurück zur Geschichte. Aus dem Reis ist bereits ein Haselnussbäumchen geworden. Die glückliche Zukunft liegt quasi schon in der Luft, die Schicksalswendung ist schon unausweichlich. Bei Aschenputtel kündigt sich ein Fest des Königssohnes an. Instinktiv spürt sie hier ihre Chance und bittet, dort mit hingehen zu dürfen, was ihr verboten wird. Jetzt hat sie es mit massiven Widerständen zu tun, die es erst noch zu meistern gilt. Als erstes heißt es nun, sich nicht einschüchtern zu lassen, sondern alles zu tun, was man nur für die Erreichung seines Zieles tun kann. Auch wenn unmöglich zu bewältigende Aufgaben vor einem stehen oder wenn die Aufgaben reine Schikane sind, wie bei Aschenputtel. Bei ihr werden Linsen in die Asche geschüttet, die sie wieder auszusortieren hat. Jeder könnte gut verstehen, wenn Aschenputtel voller Zorn darauf aus wäre, es der bösen Stiefmutter heim zu zahlen, doch nichts von alledem. Sie tut, was ihr aufgetragen wird, glaubt daran, dass sie zum Fest des Königssohnes mitgehen darf und freut sich darauf.

Genau das ist das Geheimnis: Wenn ein Lichtstreif am Horizont zu erkennen ist und eine Möglichkeit, sein Schicksal zum Besseren zu wenden, dann heißt es, daran zu glauben; zu glauben und sich darauf zu freuen. Und nicht zu vergessen, alles dafür zu tun. Aschenputtel wird aktiv und ruft alle Täubchen und Turteltäubchen ihr zu helfen. Übersetzt heißt das, wenn wir uns in eine Verfassung bringen, in der wir fest glauben und uns freuen, holen wir, so scheint es, den ganzen Himmel auf unsere Seite. Diese innere Kraft, diesen festen Glauben können wir aber nur dann aufbringen, wenn wir mit der vorherigen passiven Phase des Rückzugs ernst gemacht haben. Denn nur so entsteht eine Kraft, die uns ohne Säbelrasseln und Kriegserklärung zu unserem Ziel führt.

Was ist nun in dieser nächsten Phase, in der wir bereits ein konkretes Ziel vor Augen haben, zu tun?

Die Hauptaufgabe Aschenputtels besteht darin, Linsen aus der Asche zu lesen. Sie muss die Guten von den Schlechten trennen. Dabei helfen ihr die Täubchen. Was will uns dieses Bild sagen? Jetzt heißt es, sich über das eigene Leben Klarheit zu verschaffen. Alles Gute, was das eigene Leben bereichert, gilt es zu erkennen und zu bewahren und alles, was unbrauchbar ist, was sich überlebt hat, was nur noch Asche ist, gilt es auszusortieren. Hat eine Frau diese gedankliche Klärung geleistet, dann ist sie mit sich selbst ins Reine gekommen. Das ist das Ziel. Im Märchen helfen dabei die Täubchen. Was heißt das?

Hier wird ein Thema berührt, dass viele nicht gern hören mögen, denn es deutet an, dass unsere menschlichen Kräfte nicht allein ausreichen, um eine belastende schwere Lebenssituation zum Guten zu wenden. Es ist noch eine ganz andere Kraft erforderlich, die göttliche Kraft. Es ist eine Gnade, die uns zuteil werden kann. Doch wir können uns auf sie verlassen, wenn wir den Rat der Mutter Aschenputtels befolgen. Sie sagte:

„Bleib fromm und gut, so wird dir der liebe Gott immer beistehen.”

Betrachten wir, was Aschenputtel konkret tut, um ihr Ziel zu erreichen: Sie zieht sich drei Mal am Tag zurück, ist ehrlich mit sich selbst, weint und betet. Erst als ein konkretes Ziel auftaucht verschafft sie sich Klarheit, wer sie in ihrem tiefsten Wesen ist. Bis hierher hat Aschenputtel im Wesentlichen eine gedankliche Arbeit geleistet, und die bringt ihr einen immensen Erfolg. Denn jetzt fügt sich ihr Schicksal in ihrem Sinne. Der Königssohn bemüht sich um sie; im richtigen Moment ist sie immer am richtigen Platz, zum Schluss läuft sie aus Angst sogar vor ihrem Glück weg, und dennoch wird sie an den Platz geleitet, den sie sich unter Tränen heiß ersehnt hat. Das ist der Lohn.

Egal wer unsere Vorhaben vereiteln möchte oder wie viele Kräfte uns in die Knie zwingen möchten; wenn wir es richtig anstellen, neigen sich uns günstige Gelegenheiten und unglaubliche Zufälle entgegen, die uns sicher in solche glücklichen Lebensumstände führen, die wir uns durch die durchstandenen Entbehrungen verdient haben.

Eine wichtige Strategie dabei wird uns in dem Märchen auch mitgeteilt, sie heißt: Wir sollten unser Vorhaben heimlich verfolgen, nichts erzählen.Wer gegen mich ist, darf von meinem Plan nichts erfahren. Schließlich sitzt Aschenputtel, wenn ihre Stiefmutter mit den Töchtern vom Fest nach Hause kommt schon wieder im Kittel in der Asche.

Nun finden wir in dem Märchen noch eine scheinbar seltsame Textstelle: Als Aschenputtel dem Königssohn ins Taubenhaus entwischt, sagt er es dem Vater:

„sie mussten ihm Axt und Hacken bringen damit er das Taubenhaus entzwei schlagen konnte.”

Warum ergreift der Alte diese drastischen Maßnahmen? Gehen wir an den Anfang der Geschichte zurück, da sagt die Mutter kurz vor ihrem Tod:

„...ich will vom Himmel auf dich herabblicken und will um dich sein.”

In dieser geistigen Umhüllung der Mutter konnte die Entwicklung stattfinden. Dieser Schutzraum war Aschenputtels eigentliches Zuhause, in dem ihre Entwicklung stattfinden konnte. Doch nun, wo sie geschafft ist, muss dieser Raum zerschlagen werden. Der Alte zerschlägt das Taubenhaus als Hinweis darauf, dass es für Aschenputtel nun Zeit ist, ihre bisherige geistige Ausrichtung aufzugeben und sich ab jetzt wieder auf die realen weltlichen Lebensanforderungen zu konzentrieren. Der Birnbaum ist traditionellerweise ein Hausbaum und steht für das gedankliche Zuhause, das ihre Mutter ihr bisher geboten hat. Auch diese Verbindung zur Mutter muss gelöst werden. Ab jetzt ist sie diejenige, die um ihren Mann herum sein muss. Ein Hinweis, den das Märchen in dem Satz des Prinzen zum Ausdruck bringt: Das ist meine Tänzerin. Nur wenn eine Frau ihren Mann auf einer geistigen Ebene wie eine schützende Hülle umgibt, kann eine enge emotionale Bindung zwischen Mann und Frau möglich werden.

Wer ist der Alte, der Vater, dem der Königssohn von seiner Tänzerin berichtet, wirklich? Wenn man das Märchen genau liest, kommt einem der Verdacht, dass der Alte eigentlich Aschenputtels Vater ist! Denn nur er kennt seine Tochter gut und kann vermuten, dass die Tänzerin des Prinzen seine Tochter ist.

Die Entwicklung Aschenputtels ist geschafft, sie hat sich bis zum geistigen Niveau des Vaters oder auch des Königssohnes entwickelt. Der Vater und der Königssohn sind miteinander vertraut. Sobald Aschenputtel den Königssohn entdeckt hat, ist er es, der auf sie zukommt und sie schließlich von Zuhause holt. Für uns heißt das: Sobald ich einen Ausweg aus der Misere deutlich vor Augen habe ist der Weg zu meinem Ziel schon fast geschafft. Es war Aschenputtels Aufgabe, sich in eine Verfassung zu bringen, in der sie den Königssohn überhaupt erst anziehen konnte. In unserem Leben kann der Lohn für diese gemeisterte Aufgabe der zukünftige Ehemann, der Durchbruch in der Karriere oder der Umzug in eine schönere Wohnung sein.

Am Ende des Märchens entscheidet die Größe der Füße, wer die Braut des Königssohnes wird. Wie ist das zu verstehen?

Wer auf großem Fuß lebt, hat den Schwerpunkt seines Lebens auf die materielle Seite verlagert. Den Schwestern mit den großen Füßen ist das Materielle wichtig, das zeichnet die garstigen Schwestern aus. Schöne Kleider, Perlen und Edelsteine bedeuten ihnen sehr viel, ihre innere Herzensseite hingegen bedeutet ihnen nichts. Diese Charaktermerkmale drückt das Märchen auch dadurch aus, dass der leibliche Vater der Schwestern, also das innere geistige Prinzip, tot ist.

Ganz anders bei Aschenputtel. Alles äußere Materielle war ihr genommen. Sie wünscht sich keine Perlen und Edelsteine sondern sie braucht inneres Wachstum, darum wünscht sie sich den Reis, um die Kraft zu gewinnen, ihre Situation grundsätzlich zu verändern. Darum hat sie, anders als ihre Stiefschwestern kleine Füße. Bei Aschenputtel steht die Verbindung zum Himmel, zum geistigen Prinzip im Vordergrund.

Aschenputtel gelingt es im Märchen, sein Schicksal zum Guten zu wenden, am Ende die Frau zu werden, die zu sich selbst und damit zu ihrem Glück findet. Wann immer wir in unserer heutigen Zeit glauben, uns in der unglücklichen Situation Aschenputtels wieder zu erkennen, können wir das Märchen als wertvollen Ratgeber heran ziehen.


tl_files/images/danke.jpg Ich bedanke mich für die Interpretation mit dem Kauf einer Audio-CD „Märchen der Gebrüder Grimm” für € 9,95.

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