Frau Holle in der Interpretation
Frau Holle ist ein Märchen für Mädchen und Frauen und will etwas sehr Wichtiges mitteilen. Es sagt, um welche Gesinnung sich eine Frau bemühen sollte, wenn sie alles Glück bekommen will, was sie sich in ihren kühnsten Träumen nur vorstellen kann. Es berichtet auch von den Schwierigkeiten, die sich ihr dann in den Weg stellen werden und wie sie diese meistern kann.
Das Märchen teilt auch mit, wie eine Frau ihr Leben völlig falsch in die Hand nehmen kann und dadurch von der Erfüllung ihrer Träume immer weiter weggetrieben wird, so dass ihr letztlich irreparabler Schaden zugefügt wird. Das Märchen ist deswegen so wichtig, weil für ein junges Mädchen kaum ersichtlich ist, was es sinnvollerweise tun muss. Im Gegenteil: Der Weg, der letztendlich alles Glück bringt erweist sich zunächst als ganz und gar nicht verlockend. Er beginnt mit Arbeit. So viel Arbeit, dass dem Mädchen des Märchens das Blut aus den Fingern springt. Doch ohne diese mühselige erste Wegstrecke geht es nicht. Und das will Frau Holle jeder Frau zurufen: Ja es ist schwer, sehr schwer sogar, doch halte durch, die Mühe wird sich noch viel mehr lohnen, als Du Dir jetzt vorstellen kannst, versprochen!
Bevor wir nun mit der Interpretation der Geschichte beginnen, braucht es zum besseren Verständnis einige Worte vorweg. Alles was in unserer Welt existiert hat zwei Seiten. Eine sichtbare materielle Seite und einen innewohnenden Kern, also das Wesen oder den Wesenskern. Die äußere Materie umhüllt und beschützt wie ein Mantel etwas Wesentliches. Beim Menschen ist die äußere Seite sein Fleisch und Blut die innere Seite ist sein Wesen oder das Selbst des Menschen. Dieses Selbst scheint durch seine Sprache, sein Denken und Fühlen hindurch. Bei einem Buch besteht die materielle Seite aus Papier und Druckerschwärze, sein Wesen ist das, was es uns mitteilen möchte. Die materielle umhüllende Seite wird traditioneller Weise verkörpert durch die Frau, darauf weist uns schon die Ähnlichkeit der Worte, Mutter, Mater, Materie hin. Der Mann dagegen steht für das Wesen, den Kern der Dinge.
Mit diesem Hintergrund verstehen wir, was es heißt, wenn wir zu Beginn unseres Märchens von einer Witwe erfahren. Es ist eine Frau, die den Kontakt zu ihrer inneren Seite, ihrem Wesen verloren hat, denn ihr Mann ist tot.
Diese Witwe hatte nun zwei Töchter. Von ihrer leiblichen Tochter wird gesagt, sie sei hässlich und faul.
Faul und hässlich sind Attribute, die uns erneut auf die materielle Seite des Lebens hinweisen. Materie ist tot, starr, unbeweglich, darum wird von der einen Tochter gesagt, sie sei faul. Und warum ist sie hässlich? Schönheit ist Ausdruck von Harmonie, dem Gleichgewicht zwischen der materiellen und der inneren wesenhaften Seite des Menschen. Ist ein Mensch von seinem Innersten abgeschnitten, dann kann es kein Gleichgewicht geben. Darum ist diese Tochter hässlich.
Mit der Witwe und ihrer hässlichen Tochter werden uns somit zwei Menschen vorgestellt, die sich ganz auf die äußere Seite des Lebens geschlagen haben. Eine innere Instanz gibt es für sie nicht, davon sind sie abgeschnitten. Für sie zählt alles, was auf die materielle Seite des Lebens gehört. Für sie ist es wichtig, viel zu besitzen und es zählt Geld. In allem, was zum bunten äußeren Glanz des Lebens gehört, spiegeln sie sich wieder.
Die andere Tochter ist die Tochter des Vaters. Er steht für die innere wesenhafte Seite. Das heißt das wir annehmen können, das heißt, wir können annehmen, dass bei dieser Tochter die Verbindung nach innen intakt ist. Sie lebt im Kontakt mit sich selbst. Darum wird von ihr auch gesagt, dass sie schön und fleißig ist. Mittlerweile wissen wir, warum sie ein schönes Mädchen ist. Ihr Wesen strahlt durch sie hindurch und macht sie schön. Und da das Wesenhafte etwas Lebendiges, Bewegliches ist, wird von ihr gesagt, sie sei fleißig.
Nun erfahren wir, dass die schöne Tochter für die anderen der Aschenputtel sein muss. Sie ist den anderen untergeordnet. Wie ist das zu verstehen? Schauen wir uns die Lebensumstände des schönen Mädchens zu Beginn des Märchens einmal an. Dort heißt es:
„Das arme Mädchen musste sich täglich auf die große Straße bei einem Brunnen setzen und musste so viel spinnen, dass ihm das Blut aus den Fingern sprang.”
Ganz offensichtlich musste nun dieses Mädchen, das ein tiefes Gespür für sich selbst aufbringen kann, das von innen heraus lebt, sich tagaus tagein mit Dingen beschäftigen, die vollständig auf die äußere materielle Seite gehören. Die große Straße ist ein Bild für diese äußere Welt, und einen weiteren Hinweis gibt uns die Tatsache, dass sie spinnen musste. Sie musste Garn für Kleidung herstellen, sich mit etwas beschäftigen, das der äußeren Hülle dient.
Damit gibt uns das Märchen die wichtige Information, dass eine Frau, die in enger Übereinstimmung mit sich selbst, mit ihrem innersten Wesenskern lebt, auf der rein äußerlichen Seite des Lebens den anderen, die den Kontakt zu sich selbst gar nicht spüren, unterlegen ist. Denn bei ihr ist der Fokus auf die materielle Seite geschwächt. Das erfahren wir auch dadurch, dass sie als armes Mädchen bezeichnet wird.
Was bedeutet der Hinweis, dass sie neben einem Brunnen sitzt? Ein Brunnen oder Wasser ist immer ein Hinweis darauf, dass wir es mit einer weiblichen Geschichte zu tun haben. Was gleich nach dem Sprung in den Brunnen passieren wird, geht insbesondere Frauen etwas an.
Der Rahmen der Geschichte ist damit abgesteckt und nun beginnt die eigentliche Geschichte mit den Worten:
„Nun trug es sich zu, dass die Spule einmal ganz blutig war,…”
Die Spule steht symbolisch für unseren Wesenskern. Das, was uns im tiefsten Innern ausmacht. In unserer Geschichte ist dieser Kern blutig, er ist verletzt. Ihre Lebensumstände, die viele Arbeit ohne Liebe und Geborgenheit haben dem schönen Mädchen schwer zugesetzt. Damit gibt uns das Märchen eine wichtige Botschaft:
Wenn eine Frau, die ihr Leben aus einer tiefen Quelle schöpft, sich zu lange und zu intensiv mit den äußeren materiellen Dingen des Lebens beschäftigt, so besteht die Gefahr, Schaden zu erleiden. Sie kann aus ihrem inneren Gleichgewicht rutschen und den Kontakt zu sich selbst verlieren; zu dem, was sie im Innersten ausmacht. Damit ist sie verletzt und verliert an Lebensenergie. Das erfahren wir durch den Hinweis, dass ihr das Blut, als Ausdruck des Lebens, aus den Fingern springt.
So geht es vielen Frauen. Sie arbeiten, verdienen ihren Lebensunterhalt und irgendwann, wenn sie auf ihre innere Stimme hören, beschleicht sie das Gefühl, dass etwas falsch läuft. Sie fühlen sich immer schlechter, immer weniger lebendig, und sie ahnen dass das was sie tun kein Leben mehr ist.
Goldmarie springt nun die Spule aus der Hand und fällt in den Brunnen. Hier zeigt uns das Märchen was passiert, wenn wir zu lange nur noch funktionieren; dann verlieren wir uns selbst. Dann gibt es keine Verbindung mehr zwischen dem, was wir tun und uns selbst. Dann kommt irgendwann der Punkt, an dem nichts mehr weiter geht. Frauen, die an diesem Punkt angelangt sind fühlen sich wie erstarrt, leblos, wie tot.
Als die Spule in den Brunnen fällt, sieht Goldmarie in ihrem Leben nur zwei Möglichkeiten, wie es weitergehen könnte und beide Möglichkeiten bedeuten den Tod. Hätte sie sich geweigert, die Spule aus dem Brunnen zu holen, hätte die Stiefmutter sie vermutlich noch schlechter behandelt, als sie es eh schon tat, oder gar verstoßen. In den Brunnen springen bedeutet auch den Tod. Goldmarie wählt auch in dieser tragischen Situation den Weg das zu tun, was ihr aufgetragen wurde. Ihre Stiefmutter hatte gesagt:
„Hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hol sie auch wieder herauf.”
Das ist tatsächlich der richtige Weg, den jede Frau gehen sollte, wenn sie spürt, dass ihr Leben so nicht weitergehen kann. Doch, was bloß soll man machen, was kann man tun, um seine eigene Lage zu verbessern?
Im Märchen geht das Mädchen zu dem Brunnen zurück und in seiner Herzensangst springt es in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen. Das Märchen fordert auf und sagt: Spring! Fass dir ein Herz, überwinde dich und spring ins Unbekannte, dorthin, wo du vermutest, dass du dir selber wieder näher kommst.
Für Goldmarie ist es wie ein Sprung in den Tod. Sie verliert die Besinnung, um danach zu erwachen und wieder zu sich selbst zu kommen. Dies könnte die Überschrift der Lebensphase sein, die Goldmarie jetzt betritt. Sie soll aufwachen! Je wacher sie wird, desto mehr wird sie zu sich selbst kommen. Was ist damit gemeint? Wir alle sehen unsere Welt wie durch eine dunkle Brille. Unser Schicksal sorgt jedoch dafür, dass die Brille mit der Zeit immer heller wird und was sehen wir dann? Ob unsere Umgebung, den Beruf den wir ausüben, die Menschen mit denen wir uns umgeben, uns gut tun oder nicht.
Für Goldmarie hat ihr neues Leben so ganz und gar nichts mehr mit ihrem alten Leben zu tun. Saß sie früher auf einer großen staubigen Straße, auf der sie sich abschotten musste, befindet sie sich jetzt auf einer Wiese mit vielen tausend Blumen und die Sonne scheint. Die Blumen fordern sie auf, sich zu öffnen. Sie muss sich öffnen, damit sie empfänglich wird für den Lohn, den sie erwarten darf.
Doch erst ist noch ein Weg zu gehen und der führt sie zunächst zu einem Backofen aus dem ihr das Brot zu ruft:
„Ach, zieh mich raus, zieh mich
raus, sonst verbrenn ich: ich bin schon längst ausgebacken.”
Was bedeutet dieser Satz in dem Märchen? Ein Laib Brot oder auch ein Körper weist uns immer auf die materielle Seite des Lebens hin. Etwas, was auf die materielle Weltseite des Lebens gehört, etwas, dessen Zeit abgelaufen ist, will beendet werden.
Wie macht das nun die moderne Frau? Sie setzt sich mit ihrem „Ach“ auseinander und denkt darüber nach, was sie in ihrem Leben beenden muss, was sich überlebt hat, was sie aussortieren und wegwerfen muss. Konkret kann das heißen, den Kleiderschrank aufzuräumen und alte Kleidung wegzuwerfen oder auch den Job zu kündigen, wenn er sich überlebt hat. Oder aber die Trauer um einen vielleicht zu früh verstorbenen geliebten Menschen zu beenden oder den Kummer darüber, einmal benachteiligt oder schlecht behandelt worden zu sein. Von allem, dessen Zeit um ist, was nur noch eine Belastung im Leben ist, gilt es sich zu befreien und ganz konkrete Schritte zur Bewältigung zu gehen. Das ist ganz und gar nicht leicht, denn es bedeutet auch Abschied nehmen. Auf der einen Seite wird es eine Erleichterung sein, auf der anderen Seite kann es Tränen bedeuten. Das wird in dem Bild beim Apfelbaum ausgedrückt.
Der Baum rief ihm zu:
„Ach, schüttel mich, schüttel mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif.” Da schüttelte es den Baum, dass die Äpfel fielen, als regneten sie,…”
Das Regnen ist Ausdruck der Erleichterung und gleichzeitig Vorbote, dass bald etwas anderes, etwas Wunderschönes auf sie herabregnen wird. Das wird dann sein, wenn sie zu ihrem Wesenskern vorgedrungen sein wird. Doch noch ist ihr Kern vom Apfel umhüllt. Zu diesem Kern heißt es erst noch vorzudringen und auch hier gibt das Märchen einen Hinweis, was dafür erforderlich ist. Goldmarie muss den Baum schütteln. Sie muss dafür sorgen, dass etwas in Bewegung kommt. Sie muss sich selbst schütteln. An ihrer Verankerung im Boden, an ihren Standpunkten, ihren bisherigen Meinungen und Überzeugungen, was sie für gut hält und was abzulehnen ist. Es gilt, ihr gesamtes Leben neu zu überdenken. Mit dem Ziel, wieder eins mit sich selbst zu werden, eine Einheit herzustellen. Darum legt Goldmarie, wie das Märchen sagt, die Äpfel in einen Haufen. Nun mag man sich vorstellen, dass in jedem Apfel ein Goldkern verborgen ist. Nun ist es die Aufgabe, zu diesem Goldkern vorzudringen.
Der Weg über die Wiese am Backofen und am Apfelbaum vorbei bis zum Häuschen der Frau Holle ist der Weg, den Goldmarie gehen muss, um zum tiefsten Kern ihrer selbst vorzudringen. Sie kommt zu einem kleinen Haus, daraus guckt eine alte Frau, die sich mit den Worten vorstellt:
„Ich bin die Frau Holle.”
An diesem Punkt ist Goldmarie am Ende ihrer inneren Wegstecke angelangt, bei ihrem: Ich Bin. Hier im Innersten, in der Höhle ihrer selbst verbirgt sich ihr innerster Kern, ausgedrückt in dem Bild der großen Zähne.
„Was fürchtest du dich, liebes Kind? Bleib bei mir, wenn du alle Arbeit im Hause ordentlich tun willst, so soll dir‘s gut gehen.”
Diesen Satz hätten wir uns für Goldmarie von ihrer Stiefmutter gewünscht, die aber unbarmherzig ist und das Mädchen in Todesangst versetzt hat. Frau Holle ist das genaue Gegenteil. Sie ist eine wahre Mutter, sie sagt liebes Kind, und es ist ihr wichtig, dass es Goldmarie gut geht. Später im Text erfahren wir:
Es hatte ein gut Leben bei ihr kein böses Wort und alle Tage Gesottenes und Gebratenes.
Sprang ihr vor ihrem Sprung in den Brunnen noch das Blut aus den Fingern als ein Zeichen, dass sie an Lebenskraft verlor, so gibt es hier Gesottenes und Gebratenes. Hier wird sie genährt, und alles Böse ist überwunden. Gelingt es einer Frau also, bis zu ihrem Wesenskern vorzudringen und ganz in sich selbst zu ruhen, dann gibt es nur noch Gutes im Leben, dann geht es ihr gut! Und dann zieht sie auch das Gute an, denn es ist immer die eigene Ausstrahlung, die entweder Gutes oder Ungutes anzieht. Darum kommt ein Unglück selten allein. Wenn wir in einer schlechten Phase sind, dann sind wir es, die eine Schwierigkeit nach der anderen heraufbeschwören. Aus dem Märchen erfahren wir, was wir tun müssen, um uns aus einer solchen Negativspirale zu befreien. Wir müssen das Problem an der Wurzel packen und in uns gehen, uns zurückziehen und unsere Mitte wieder finden. Wenn andere uns böse kommen, wenn der Ehemann einen Streit anfängt, so ist das ein Hinweis darauf, dass wir aus unserer Mitte gerutscht sind.
Es ist leicht gesagt, seine Mitte nicht zu verlieren. Es bedeutet harte Arbeit und auch, Angst zu überwinden. Viel lieber laufen wir vor uns selber weg doch dadurch gibt es keinen Lohn. Besser ist es, einen schwierigen aber notwendigen Schritt zu wagen und auch da gibt das Märchen eine Hilfestellung, es sagt:
„...wenn du alle Arbeit im Hause ordentlich tun willst…”
Hier spielt das Wollen eine Rolle. Jede Frau ist sicher schon einmal an den Punkt gekommen, an dem sie sich gefragt hat, ob sie nun Dinge tun soll, bei denen andere Menschen stolz auf sie sind, bei denen sie Ruhm, Ehre und Geld gewinnt oder ob sie das tun soll, wonach ihr Herz schlägt, bei dem sie sich wohl fühlt. Hier heißt die klare Antwort: Das, was weiterführt ist einzig und allein das Hören auf sich selbst! Das ist die ,,Arbeit im Haus‘‘. Es ist das stete Bemühen das, was ich tue, im Einklang mit mir selbst zu tun. So wie eine Frau meist ihre Garderobe so auswählt, dass sie sich damit im Einklang fühlt, so sollte sie es idealerweise mit jeder Unternehmung tun. Das, was die Frau als Aufforderung in sich spürt, das sollte sie auch zunächst wollen und sich dann entschließen es zu tun.
Die „Arbeit im Haus” ist auch eine Arbeit, die die Umgebung verschönert, veredelt und darauf ausgerichtet ist, dass Menschen sich wohl fühlen.
Im Märchen gibt es aber noch einen wichtigen Schritt, den Goldmarie gehen muss. Nachdem sie zu ihrem inneren Wesen vorgedrungen ist, trägt Frau Holle ihr auf:
„Du musst nur achtgeben, dass du mein Bett gut machst und es fleißig aufschüttelst, dass die Federn fliegen, dann schneit es in der Welt;…”
Goldmarie muss das Bett aufschütteln, es muss etwas in Bewegung kommen, dann wird etwas vom Himmel herabfallen. Erst waren es die Äpfel, nun sind es die Schneeflocken und bald ist es das Gold. Goldmarie geht durch eine harte, kalte Zeit doch sie wird sie meistern, wenn sie diszipliniert ihre Pflicht erfüllt.
Schnee hat eine kristalline Struktur. Dies ist ein Hinweis darauf, dass hier Materie gemeint ist. Schnee bedeckt die Erde mit einer Hülle. Ein deutlicher Hinweis, dass Goldmarie mit ihrer Arbeit die materielle Seite der Welt entstehen lässt. Wie können wir das verstehen? Der Weg Goldmaries ist ein Weg ins Innerste des Menschen. Dort angelangt, befindet sie sich im Einklang mit sich selbst, dann schlägt etwas um. Aus der Höhle entsteht die Hülle. Das Innerste wird zum Äußeren. Hier begegnet uns ein Bild, das schon in anderen Märchen gezeichnet wird. Es will uns eine Botschaft mitteilen, die für uns ganz unglaublich klingt:
Es ist die Botschaft, dass die Frau die Macht hat, auf unsere äußere sichtbare Welt Einfluss zu nehmen. Es ist die Frau, die die Kraft hat, eine blühende bunte Welt entstehen zu lassen. Niemand bekommt seine Welt von außen vorgesetzt, sondern die Verfassung der Frau, in wie weit sie mit sich selbst in Einklang leben kann, bestimmt den Zustand der Welt. Und wer so gründlich mit sich selbst aufräumt wie es Goldmarie getan hat, der bedeckt die Welt mit einer weißen Hülle als Ausdruck der Reinheit. Diese Welt ist in Ordnung.
Nach einer Zeit möchte Goldmarie wieder nach Hause und Frau Holle freut sich darüber.
„Es gefällt mir, dass du wieder nach Haus verlangst,…”
Leben ist Rhythmus, ein stetiges Auf und Ab. Die Arbeit der inneren Seite hat Goldmarie getan, sie steht wieder in Kontakt mit sich selbst und nun heißt es, sich wieder nach draußen zu orientieren. Goldmarie hat ein Gespür für diesen Rhythmus und das freut Frau Holle. Doch zunächst erhält sie ihren Lohn. Es fällt ein gewaltiger Goldregen auf sie herab, so dass sie über und über damit bedeckt ist.
Goldmarie wird von dem Gold überzogen, so dass sie zu einem glänzenden Kern wird. Jetzt ist sie ganz und gar sie selbst. Sie hat sich selbst wiedergefunden, ausgedrückt in dem Bild, dass Frau Holle ihr an dieser Stelle die verloren gegangene Spule wiedergibt. Und wofür steht das Gold? Es symbolisiert das Wesen, den Kern der Dinge und das ist wie beim Atomkern, reine Energie. Es ist die Lebensenergie die freigesetzt wird, wenn wir alles Überlebte über Bord geworfen haben und zu uns selbst vorgedrungen sind.
Wer sein Leben aufräumt und nun ja sagen kann zu sich selbst, den richtigen Kurs weiter geht und auch noch so große Schwierigkeiten überwindet, gewinnt etwas unendlich Wertvolles, nämlich das Gold, unsere Lebensenergie.
Bald, wenn sich Goldmarie wieder äußeren Dingen zuwendet, wird dieses Gold wieder Schmutz ansetzen, dann wird sie sich immer mehr verlieren und dann beginnt der Prozess der Reinigung erneut. Sobald also eine Frau überlebte weltliche Dinge abstreift, ist damit der Weg zu ihrer inneren Kraftquelle frei geworden. Aus ihr strömt Energie. Es ist die ureigenste Aufgabe jeder Frau bis zu dieser Lebensquelle, das ist ihr innerster Wesenskern, vorzustoßen und mit Energie aufzuladen. Die Bewältigung unseres Arbeitsalltags, das Erledigen notwendiger Dinge mit denen wir unser Geld verdienen, verstopft den Zugang zu dieser Quelle immer mehr. Dann heißt es, einen Schritt zurück zu treten und sich innerlich wieder neu zu justieren.
Nun werden Sie vielleicht verblüfft oder enttäuscht sein, dass es sich bei dem Gold mit dem Goldmarie überhäuft wird, gar nicht um äußeren Reichtum handelt, denn im realen Leben ist sie immer noch arm. Vielmehr ist hier etwas auf der inneren Ebene geschehenen. Sie hat einen inneren Reichtum erworben. Nun könnte man sich enttäuscht abwenden und denken, dass man in dem Märchen wohl doch keine Hilfe findet, wie man in seinem Leben einmal nach vorne kommen kann. Man könnte denken, dass man zwar vielleicht zu einem innerlich wertvollen Menschen wird aber weiter keinen Nutzen davon hat. Schließlich zählt in dieser Welt nun einmal nur das, was man besitzt.
Diese Überlegungen sind falsch!
Der innere Reichtum ist die Voraussetzung dafür, bedeutende Veränderungen in der realen Welt bewirken zu können. Wenn man einen Ball werfen will, muss man zunächst nach hinten ausholen. Wenn man hoch springen möchte, muss man zunächst in die Knie gehen. Genauso verhält es sich auch auf der psychischen Ebene. Wer hoch hinaus will muss erst tief hinab, eben in den Brunnen, beziehungsweise auf die Suche zu sich selbst, zu seinem inneren Wesenskern. Mit dieser Voraussetzung kann man im Leben so hoch hinauskommen, wie man bereit war hinabzusteigen.
Im Märchen sind Mutter und Schwester von dem großen Reichtum der Goldmarie ganz beeindruckt, und als die Mutter hört, wie es dazu gekommen ist, will sie der hässlichen und faulen Tochter gerne dasselbe Glück verschaffen. Sie muss sich nun auch an den Brunnen setzen und spinnen. Pechmarie aber tut nichts, sie ist faul und darum ist auch nicht zu erwarten, dass ihr die Spule aus der Hand springt. Sie weiß gar nicht, wie wichtig sie ist, wie wichtig es ist, sein ureigenstes Wesen zu fühlen. Das Märchen berichtet nun:
„Dann warf sie die Spule in den Brunnen und sprang selber hinein.”
Pechmarie springt selber in den Brunnen. Bei Goldmarie hingegen war der Sprung in den Brunnen der Sprung zu sich selbst ins Erwachen. Pechmarie hingegen geht diesen Schritt nach innen nicht. Sie spürt sich selbst nicht und vermisst deswegen auch nichts. Sie bleibt ganz im Äußerlichen haften. Ob ihr inneres Wesen aufschreit, hört sie nicht.
Nach ihrem Sprung in den Brunnen ist zunächst alles so, wie sie es schon von ihrer Schwester gehört hat. Nach dem Backofen kommt sie zu dem Apfelbaum, der ruft:
„Ach, schüttel mich, schüttel mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif.”
Wenn Pechmarie antwortet, dass ihr einer auf den Kopf fallen könnte, so will uns das Märchen damit sagen, dass sie nicht bereit ist, einmal über sich nachzudenken, die Dinge, wie sie sind, in Frage zu stellen, sich zu schütteln und vielleicht zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Sie ist nur auf den Reichtum am Ende aus, doch der Weg dorthin ist ihr zu lästig.
An ihrem ersten Tag bei Frau Holle ist sie fleißig und folgt Frau Holle, denn sie denkt an das viele Gold. Pechmarie will die Arbeit im Haus eigentlich gar nicht leisten, jedenfalls nicht aus ihrer inneren Überzeugung, sie tut sie nur in der Hoffnung auf das Gold. Doch diese Motivation hält nicht lange. Schon am zweiten Tag beginnt sie zu faulenzen und dann möchte sie morgens nicht mehr aufstehen. Das bringt uns zu einer weiteren Lebensweisheit:
Wenn ich etwas tun soll, das ich nicht will, dann werde ich müde. Es gibt viele Frauen, die sich regelrecht blockiert fühlen, ihre Aufgaben Haushalt und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Sie verlangen von sich den Haushalt zu richten, haben jedoch das Gefühl, dann ihre Karriere zu vernachlässigen und arbeiten im Haushalt nur das Allernötigste. Konzentrieren sie sich dagegen auf ihre Karriere, können sie dies auch nicht richtig und für lange Zeit, da sich früher oder später ihr Bedürfnis meldet, sich mit sich selbst zu befassen. Der Ausweg hier heißt, sich zu entschließen: Erst die innere Seite wollen und diese verwirklichen, um dann die äußere Seite zu wollen.
Pechmarie, die Frau, die sich überhaupt nicht mit sich selbst auseinandersetzt keinen Kontakt zu sich selbst hat, kann natürlich auch keine umgebende, schützende Hülle sein. Nur aus dem Kontakt mit dem Innersten fliegen die Federn und es entsteht die uns umgebende materielle Welt. Das lehrt uns das Märchen. Goldmarie wird am Ende mit jeder Menge Gold belohnt, auf sie wartet ein Leben mit vielen glücklichen Schicksalsfügungen. Wenn wir uns heute in einer Situation befinden, in der wir vielleicht nicht weiter wissen, in der wir keinen Kontakt mehr zu unserem Inneren, zu unseren Gefühlen haben, können wir auf den Weg Goldmaries schauen. Es könnte auch für uns ein erfolgreicher Weg zu Glück und Zufriedenheit sein.