Märchen der Gebrüder Grimm

Hänsel und Gretel in der Interpretation

Ich möchte Dir heute von dem Märchen Hänsel und Gretel berichten, dass mich, wie bisher alle Märchen mit denen ich mich befasst habe, in großes Staunen versetzt hat. Dieses Märchen beschreibt nichts Geringeres als den Lebensweg des Menschen und zwar beginnend vor unserer Zeugung, und es endet jenseits unseres physischen Todes. Zu Beginn befinden wir uns im Haus des Vaters also bei Gott. Und dahin kehren wir auch wieder zurück, allerdings kehren wir anders zurück als wir ausgezogen sind, nämlich mit vollen Taschen. Los ging die Reise bettelarm. Am Ende sind wir unglaublich reich, wenn wir unser Leben gut gemeistert haben. Wie so ein Leben gelingt, davon berichtet das Märchen.

Der Anfang unseres Lebens ist durch einen entsetzlichen Mangel gekennzeichnet. Jetzt fragst Du dich vielleicht was das für ein Mangel ist. Am besten versetzt Du dich dazu in die Märchenfiguren hinein. Hänsel und Gretel fühlen sich im dichten Wald verloren, haben Hunger und wissen nicht, wie sie nach Hause zurückfinden sollen. Was fehlt ist in eine psychologische Sprache übersetzt Bewußtheit. Das Wissen um den Weg zurück in die wahre Heimat.

Endlich finden die Kinder das Knusperhäuschen. Alle Not scheint ein Ende zu haben, und die Kinder bedienen sich nach Herzenslust. Das Knusperhäuschen steht für die materiellen Dinge dieser Welt. Wir sollen die materielle Welt entdecken, uns an ihr bedienen und jeder soll sich das nehmen, was ihn nährt und was ihm Freude macht. Das ist die erste wichtige Etappe im Leben, die es zunächst zu meistern gilt. Das Märchen berichtet, dass Hänsel in die Höhe greift und ein Stück vom Dach abbricht. Hänsel also der archetypische Mann will in seinem Leben nach etwas Hohem greifen, daran hat er Freude. Gretel hingegen kann die runde Fensterscheibe essen, sie schmeckt süß. Dies ist ein Hinweis des Märchens, dass Mann und Frau unterschiedliche Dinge glücklich machen. Gretel kann natürlich das gleiche essen wie Hänsel auch, doch Glücksgefühle kann sie im Rund und Eins Sein, in dem Süßen der Liebe erleben und dieses wunderbare Gefühl ist wie ein Blick durch eine Fensterscheibe in den Himmel.

Doch bald ist es im Märchen mit dieser glückseligen Zeit des Lebens aus. Was anfänglich als das große Glück aussah, wird zu einem Horrortrip. Hänsel wird wie ein Tier in einen Stall eingesperrt und Gretel muss ihn für die Hexe mästen. Was will uns das sagen? Wenn wir dabei stehen bleiben und weiterhin materielle Dinge als das oberste Ziel im Leben ansehen, dann haben wir zwar materiell nichts auszustehen - die Kinder haben reichlich zu Essen, es fehlt ihnen an nichts, aber psychisch landen wir in einer Katastrophe und die äußert sich bei Mann und Frau anders. Hänsel fühlt sich eingesperrt und ausgeliefert und Gretel fühlt sich verausgabt energetisch leer, das sagt uns das Bild, dass sie Wasser schleppen und kochen muss und ist über ihr beider Los tief verzweifelt. Solange ein Mensch nur darauf aus ist, Geld zu verdienen wird sein Leben mit der Zeit immer mehr zur Hölle. Und nun sagt uns das Märchen sehr präzise, was zu tun ist, um sich aus dieser scheinbar aussichtslosen Situation zu befreien.

Jetzt ist Gretel, also die Frau gefragt. Sie fasst sich ein Herz und schubst die Hexe in den Ofen. Damit wird ein Standpunkt, eine Überzeugung getötet, die in diese fürchterliche Situation geführt hat, nämlich die Überzeugung, im Leben käme es einzig und allein auf materiellen Besitz an. Mit dieser Tat hat schlagartig aller Kummer ein Ende. Interessant ist an dieser Stelle die Aufgabe der Frau. Zu Beginn des Weges hat Gretel eine passive Rolle. Sie begleitet Hänsel, der, bis sie das Hexenhaus finden, aktiv die Führungsrolle übernimmt. Erst in der zweiten schwierigen Situation wird Gretel aktiv, indem sie die Hexe in den Ofen katapultiert. Die Botschaft des Märchens an dieser wichtigen Stelle lautet: Wenn es einer Frau gelingt, sich von der materiellen Fixierung zu lösen, befreit sie den Mann aus seinem tierischen Gefängnis des materiellen Verhaftet Seins und beendet das Martyrium für beide.

Das Resultat dieses beherzten Schrittes ist schier unfassbar. Sie finden nämlich im Haus der Hexe Mengen an Perlen und Edelsteinen. Auf einmal sind sie so reich, wie sie nie zu hoffen gewagt hätten. Was hier gemeint ist, ist innerer Reichtum. Sie wissen jetzt, dass sie reich sind. Dieser gefühlte Reichtum macht sie auch im realen Sinne tatsächlich reich, doch das ist nicht mehr wichtig. Der innere Reichtum ist das was zählt. Warum das so ist, berichtet das Märchen zum Schluss. Hänsel und Gretel gehen nun noch eine Zeit durch den Wald, der ihnen mit der Zeit immer bekannter vorkommt. Ein Hinweis, dass wir im Leben einen immer besseren Durchblick bekommen, oder psychologisch gesagt immer bewußter werden. Bis beide an einen Fluss kommen, über den keine Brücke und kein Steg führt, nur ein weißes Entchen kann beide einzeln hinüber bringen. Es ist nicht schwer zu erraten, dass damit das Ende unseres Lebens markiert ist. Das weiße Entchen als Bote des Himmels, wo unsere Reise enden wird. Den Reichtum, den beide sich in ihre Taschen geladen haben, den nehmen sie mit. Es ist der innere Reichtum, den der Mensch hier auf dieser Welt ansammeln soll, denn den kann er mit hinüber nehmen und dann herrscht nur noch Freude.

Und was bedeuten die mysteriösen Zeilen: Mein Märchen ist aus, dort läuft eine Maus, wer sie fängt, darf sich eine große große Pelzkappe daraus machen. Vielleicht ist das ein Hinweis auf das, was auf der anderen Seite geschieht. Hier in unserer realen Welt sprengen wir unsere materielle Umhüllung ab. Wir schubsen die Hexe in den Ofen. Es bleibt reines Bewusstsein oder unser Wesenskern, in der Märchensprache die Maus.
Kann es nicht sein, dass auf der anderen Seite das Gegenteil geschieht, ein Prozeß bei dem sich das Bewusstsein einen materiellen Ausdruck, die große Pelzkappe, die Erscheinungen unserer Welt formt.