Rapunzel in der Interpretation
Zunächst erfahren wir von einem Mann und einer Frau, die sich vergeblich ein Kind wünschen. Damit ist der Rahmen der Geschichte abgesteckt, und es ist zu vermuten, dass uns das Märchen mitteilen möchte, welche Fehler im Leben zu Kinderlosigkeit führen können, und was zu tun ist, diese Fehler zu umgehen. Gleich der nächste Satz bringt uns die erste Information:
Die Leute hatten in ihrem Hinterhaus ein kleines Fenster, daraus konnte man in einen prächtigen Garten sehen, der voll der schönsten Blumen und Kräuter stand; er war aber von einer hohen Mauer umgeben, und niemand wagte hineinzugehen, weil er einer Zauberin gehörte, die große Macht hatte und von aller Welt gefürchtet ward.
Normalerweise gehörte in der damaligen Zeit zu jedem Haus ein Garten. In unserer Geschichte existiert zwar ein Garten, doch er gehört einer Zauberin. Es ist nur möglich, durch ein kleines Fensterchen in diesen Garten hinabzusehen. Wenn wir die Symbolik dieses Bildes übersetzen, so will uns dieses Märchen ein Paar vorstellen, dass einen sehr wichtigen Bereich seines Lebens ausgeklammert hat; ausgerechnet den Bereich, aus dem der Mensch seine Nahrung bezieht und der ihn leben lässt.
Vor der Zauberin hat alle Welt Angst und niemand wagt, den Garten zu betreten. Übersetzen wir dieses Bild, so haben wir es mit einem Paar zu tun, das sich nicht mutig vom Leben das nimmt, was es braucht, sondern hier herrscht Angst. Insbesondere die Frau wird von diesem Lebensgefühl geprägt, denn im übertragen Sinn steht der Garten für die Welt und damit für die Frau. Kann sie diesen Bereich aber nicht leben, so hat sie in ihrer Seele einen Teil abgespalten, den sie dringend leben müsste, weil er sie und ihre Familie nährt. Doch davor hat sie Angst.
Damit wird klar, wer die Zauberin ist. Sie ist, kurz gesagt, die dunkle Seite der Frau. Die Frau und die Zauberin gehören zusammen, sie sind ein und dieselbe Person. Der Garten, der durch die Zauberin bewacht wird, steht für den Seelenanteil, den jede Frau in ihrer weiblichen Entwicklung erobern sollte. Hat sie ihn in Besitz genommen, so ist es gleichbedeutend damit, im Einklang mit sich selbst zu sein, also derjenige zu sein, der sie ist.
Von dem Garten wird gesagt, dass er prächtig und voll der schönsten Blumen ist. Hier herrscht üppiges Leben. Hier duftet und blüht es in allen Farben. Er wird so verlockend dargestellt, als sei er das Paradies. Damit gibt uns das Märchen eine wichtige Information: Jede Frau besitzt einen solchen Garten, das heißt, in ihr steckt die Anlage, sich einen Lebensraum, eine Welt zu schaffen, die alles bereit hält, was sie zum Leben braucht. Sie hat die Kraft, eine herrliche bunte Welt entstehen zu lassen.
Es ist eine unglaubliche Botschaft, die uns das Märchen mitteilt:
Der Lebensraum mit all seinen Ereignissen, in dem jeder von uns lebt, kurz gesagt unsere Welt, ist nicht etwa von vornherein vorgegeben. So gehen wir normalerweise mit den Ereignissen in unserer Welt um. Wir meinen, die Welt ist wie sie ist und wir müssen uns entsprechend nach ihr richten. Das Märchen teilt uns etwas anderes mit. Es sagt, die Frau bestimmt, wie wir unsere Welt erleben; bunt und fröhlich oder trist und traurig. Die Frau ist die Welt. In welcher Welt eine Familie lebt entscheidet somit die Frau. Sie hat die Kraft, ein üppiges, lebendiges, buntes Leben voll zur Blüte zu bringen, das alles bereit hält, was für ein erfülltes Leben benötigt wird. Unter der Voraussetzung, dass sie den Schritt in den Garten wagt.
Die Frau im Märchen schaut voller Sehnsucht in den prächtigen und bunten Garten hinab. Sie sehnt sich, heißt es, und wir wissen, dass, wenn dieser zentrale seelische Bereich von einer Frau nicht gelebt wird, ihr Leben kümmerlich ist; es kommt nicht zur Blüte.
Übertragen auf die Frau in unserer heutigen Welt heißt das, dass sie andere so leben sieht, wie sie selber gerne leben würde: frisch, positiv, lebendig, in Fülle und Glück. Sie hofft, dass ein Wunder geschieht und ihr das Leben oder der liebe Gott das beschert, was sie sich wünscht. Das aber wird nicht geschehen, solange sie nicht mutig den Garten betritt und die böse Zauberin, also ihre dunkle Seite vertreibt. Sie muss ihre Angst überwinden. Erst dieser Schritt ist der Entwicklungsschritt vom Mädchen zur Frau. Es ist ihr Schritt ins Leben. Wenn eine Frau das Gefühl hat, das Leben geht an mir vorbei oder, vor lauter Arbeit verpasse ich mein Leben, so hat sie den Garten der Zauberin noch nicht betreten.
Der Frau im Märchen steht die kraftvolle Lebensenergie die nötig ist, alles Neue entstehen zu lassen, nicht ausreichend zur Verfügung. Sie ist davon abgeschnitten. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sie blass und elend aussieht und weiß, dass sie sterben wird, wenn sie nicht etwas aus dem Garten zu essen bekommt. Ein Paar, bei dem es der Frau so schlecht geht, die so kraftlos ist, kann natürlich schwer Kinder bekommen. Es wird also verständlich, warum das Paar im Märchen so lange kinderlos bleibt!
Es fällt auf, dass sie gar nicht auf die Idee kommt, sich selbst Strategien zu überlegen, um ihren Wünschen näher zu kommen, denn damit könnte sie sich ihren Garten erobern. Sie weiß aber, dass es so nicht weitergehen kann. Statt tatkräftig zu werden verharrt sie im Hoffen.
Jetzt springt ihr Mann ein. Aus Angst seine Frau zu verlieren, tut er etwas, das ihre Aufgabe gewesen wäre. Er überwindet seine Angst und steigt in den Garten, um das zu holen, was seine Frau braucht. Doch damit ist ihr Begehren nur für kurze Zeit gestillt, und sie verlangt nach mehr. Er könnte noch so häufig in den Garten steigen; solange sich die Frau nicht selbst aufmacht und ihre Angst überwindet, so lange wird sie sich vor Sehnsucht verzehren und keine Ruhe haben, wie es im Märchen heißt.
Wir haben es hier mit einem Mann zu tun, der seine eigenen Wünsche weit zurück stellt und bereit ist alles zu tun, damit es seiner Frau gut geht. Fast macht es den Eindruck, als wenn sein Lebensinhalt einzig das Glück seiner Frau ist. Also macht er sich ein zweites Mal in den Garten auf, damit seine Frau Ruhe hat. Seine eigene Ruhe scheint keine Rolle zu spielen. Ihre Wünsche stehen für ihn im Mittelpunkt.
Damit wird klar, dass der Mann die gleichen Ängste hat wie seine Frau. So wenig wie sie in der Lage ist, ihr Leben zu leben, so wenig ist er es. Er verfolgt nicht eigene Ziele, die er mit Kraft vorantreibt, sondern schaut ängstlich auf seine Frau und gibt sich alle Mühe, es ihr Recht zu machen. Im Gegenzug scheint sie sich um ihn wenig zu kümmern, denn nachdem er ihr die Rapunzeln gebracht hat wird gesagt:
Sie machte sich sogleich Salat daraus, und aß sie in voller Begierde auf.
Dies ist zwar eine Randmitteilung des Märchens aber eine charakteristische Kennzeichnung für ein Paar, bei dem jeder seinen Entwicklungsschritt in die Eigenständigkeit noch nicht gewagt hat. Dann ist ein Mann voller Angst, seine Frau könne sich von ihm abwenden und versucht, ihr alles Erdenkliche recht zu machen. Er kreist sozusagen um seine Frau und die Frau kreist um sich selbst, beziehungsweise gedanklich um ihr Kind, das sie ersehnt. So aber sollte es nicht sein. Denn ein solches Leben nimmt beiden mit der Zeit die Luft zum Atmen.
Das Märchen stellt uns hier eine Frau vor, die ganz und gar keinen selbständigen Eindruck macht sondern die beinahe wie ein Kind darauf hofft, dass sie das vom Leben bekommt, was sie braucht doch gleichzeitig davon überzeugt ist, selber dazu nichts beitragen zu können. Ihr Leben kreist egoistisch um ihre Bedürfnisse, doch ohne selbst aktiv zu werden. Sie steht an einem kleinen Fenster und schaut dorthin (dort hin), wo sie am bunten Leben teilnehmen müsste. Doch das traut sie sich nicht zu, so bleibt ihr Leben unausgefüllt und in der Sehnsucht stecken.
Der Gedanke dass das, was mir Freude macht, was ich gerne hätte, für mich sowieso unerreichbar ist, ein solcher Gedanke darf nicht sein. Entweder gilt es das, was ich mir wünsche, tatkräftig in die Hand zu nehmen, so dass es Realität wird oder den Wunsch zu verwerfen und sich realistische Ziele zu setzen. Meist sind Wünsche erreichbar, sofern ich etwas dafür tue. Im Märchen sehnt sich die Frau nach Rapunzeln, was lediglich gewöhnlicher Feldsalat ist, der leicht selbst anzupflanzen ist.
Von der Frau im Märchen wird gesagt, dass sie keinen Feldsalat bekommen konnte. Und wir fragen uns: Warum? Was macht sie so sicher, dass sie davon keinen bekommen kann? Es wäre doch so leicht!
Wir ahnen wo der Grund liegen mag, wenn wir die Geschichte zu Ende gelesen haben. Sie traut sich nichts zu, weil sie auch eine Mutter hatte, die sie so behandelt hat, wie Frau Gothel es mit Rapunzel tut. Eingesperrt in einen hohen Turm mit nur einem kleinen Fenster schaut sie auf die Welt. Auch sie hat keine Mutter gehabt, die ihr Leben in die Hand nahm, es erfüllend gestaltete und für die Tochter ein Vorbild war.
Das Märchen teilt uns präzise mit, wonach sich die Frau sehnt:
…da erblickte sie ein Beet, das mit den schönsten Rapunzeln bepflanzt war; und sie sahen so frisch und grün aus, dass sie lüstern ward und das größte Verlangen empfand, von den Rapunzeln zu essen.
Wenn sie wegen gewöhnlichem Feldsalat Verlangen spürt, weil er frisch aussieht, so können wir vermuten, dass ihr Leben genau das Gegenteil ist. Ihr Leben beginnt, bevor es überhaupt angefangen hat, bereits zu verwelken. Wenn von der Farbe grün gesprochen wird, als Symbol der Liebe, so ist es ein Hinweis, dass sie sich nach Liebe sehnt. Sie kann keine Liebe zu ihrem Mann empfinden, da sie ihren Platz als Frau noch nicht eingenommen hat. Dazu würde gehören, dass so, wie normalerweise der Mann, auch die Frau die Aufgaben übernimmt, die ihr einen Lebensinhalt geben. Es können ganz gewöhnliche Aufgaben sein, nichts Spektakuläres, dann würde ihr Verlangen und ihre Lust gestillt werden, dann wäre sie mit sich im Gleichgewicht und könnte Liebe empfinden. Doch diesen Schritt wagt die Frau im Märchen nicht.
Als der Mann das zweite Mal in den Garten steigt, erschrickt er gewaltig, denn er sieht die Zauberin vor sich stehen.
„Wie kannst du es wagen, ........in meinen Garten zu steigen und mir wie ein Dieb meine Rapunzeln zu stehlen?”
Hier steht: "…wie ein Dieb…" Dabei stiehlt er die Rapunzeln doch tatsächlich. Was bedeutet das? Wenn wir den Garten als die Welt auffassen, die durch die Kraft der Frau zum Blühen und Gedeihen gebracht wird, so steht es dem Mann zu, sich in dieser Welt frei zu bewegen. Die Welt, die von der Frau kreiert wird dient dem Mann als Hülle, als Lebensraum, in dem er arbeitet und sich sicher und geborgen fühlen kann. Ihm steht es zu, sich in diesem Garten zu bedienen. Er muss nicht wie ein Dieb kommen, sondern es ist sein Recht.
Doch wie seine Frau Angst davor hat, für ihn die Welt, die schützende Hülle zu sein, so hat auch der Mann Angst, sich in diesem für ihn noch nicht freigegebenen Bereich zu bewegen. Darum berichtet uns das Märchen:
Der Mann sagte in seiner Angst alles zu.
Er verspricht das Kind, das das Paar erwartet, der Zauberin! Was will uns das Märchen damit sagen? Ein Mann, der sich vor den Karren seiner Frau spannen lässt, die Ängste seiner Frau stützt indem er ihr, aus Angst sie zu verlieren, ihre Aufgaben abnimmt, wird sein Kind an seine Frau verlieren. Die Zauberin steht für die noch nicht erlöste Seite der Frau; der Frau, die noch zu viel Angst hat, ihren Platz im Leben einzunehmen.
Als nun das Kind geboren wird erscheint sofort die Zauberin, gibt ihm den Namen Rapunzel und nimmt es mit sich fort. Das Kind trägt nun den Namen dessen, wonach die Mutter großes Verlangen hatte. Als sie zu Beginn des Märchens sehnsüchtig auf den Garten mit seinen köstlichen frischen Rapunzeln schaut, hat sie große Gelüste, diese zu verspeisen. So weist also schon der Name des Kindes darauf hin, dass die Mutter das Kind völlig für sich vereinnahmen wird. Damit zeigt uns das Märchen einen tieferen Grund von Kinderlosigkeit.
Wenn eine Frau aus Angst nicht wagt, im Garten der Welt all das anzubauen, wonach sie begehrt, übersetzt heißt das, wenn sie nicht wagt, Aktivitäten in der Welt zu initiieren, die ihr Freude machen, dann wird sie nicht so leicht schwanger werden.
Wird dennoch ein Kind geboren, so wird die Mutter die Befriedigung all ihre Wünsche und Sehnsüchte von ihrem Kind erwarten und es ganz für sich beanspruchen. Die Zauberin, also die angstvolle Seite der Mutter hat es versäumt, ihre Welt zu bestellen. Stattdessen macht sie ihre Tochter zu ihrer Welt. Mit Rapunzel hat sie sich ein Stück von der bunten Lebendigkeit der Welt ins Haus geholt und partizipiert nun von ihrem Leben.
Als das Kind zur Frau heranreift, wird es für die Mutter gefährlich. Denn mit der Pubertät beginnt ein Entwicklungsprozess, in dem sich die Tochter von der Mutter abnabeln möchte. Das aber kann die Mutter nicht zulassen. Denn so, wie sie bereits vor der Geburt ihrer Tochter glaubte, sterben zu müssen, wenn sie nicht von den Rapunzeln bekäme, so befindet sie sich heute in der gleichen Situation. Sie braucht ihre Tochter zum Leben, weil ihre Tochter ihr Leben ist. Sie verbringt jeden Tag mit ihr, sie ist ihr ganzer Lebensinhalt. Sie muss den Schritt der Tochter in die Welt verhindern, also sperrt sie sie in einen Turm, der keine Tür hat sondern nur ein kleines Fensterchen und isoliert sie damit von der Welt.
Es ist das gleiche Bild wie zu Beginn des Märchens. So wie die Mutter nur ein kleines Fenster mit der Welt verband, so ist jetzt ihre Tochter in der gleichen Situation, und wir können vermuten, dass es sich um das gleiche Fenster handelt. Jetzt verstehen wir die Angst der Mutter, nach draußen zu treten besser. Vermutlich hat sie eine ähnlich besitzergreifende Mutter gehabt, und ihr wurde jede eigene Erfahrung mit der Welt verwehrt.
Der Turm steht in einem Wald. Das weist darauf hin, dass Mutter und Tochter allein sind; es gibt keinen anderen Menschen, der ihnen nahe wäre.
Nun kommt Frau Gothel, wie die Zauberin heißt, jeden Tag zu Rapunzel und lässt sich von ihren langen Haaren hochziehen. Die wichtigste Botschaft des Märchens steckt in diesem Bild: Wir haben zu Beginn erfahren, dass eine Frau, die in der Sehnsucht nach Wünschen stecken bleibt und selbst nichts für ihre Erfüllung tut, an Energie verliert. Ein Kind kann eine Mutter im wahrsten Sinne des Wortes wieder hoch ziehen und das will uns dieses Bild mitteilen. Doch damit belastet die Mutter ihr Kind. Die Mutter darf ihr Kind nicht dazu benutzen, damit es ihr selber gut geht. Diese Aufgabe ist für ein Kind zu schwer.
Das Märchen teilt uns präzise mit, womit ein Kind die Mutter hochzieht. Im Märchen sind es die Haare von Rapunzel und die stehen für eine weibliche Kraft, für Leben und Lebendigkeit. Es ist die Kraft, die den Garten der Welt zum Blühen bringen kann. Diese frische jugendliche Kraft ist es, die die Mutter braucht. Es ist aber auch die Kraft, mit der eine Frau einen Mann anziehen kann.
Obwohl die Mutter sich bemüht, ihre Tochter ganz eng an sich zu binden, entsteht der Eindruck von Distanz und Ablehnung. Als Rapunzel sich für den Königssohn entscheidet, tut sie das mit den Worten:
„Der wird mich lieber haben als die alte Frau Gothel.”
Das Wort Gothel deutet etymologisch auf die Bedeutung barbarisch, roh hin. Ihre Mutter ist für sie also eine rohe alte Frau, zu der sie keine enge Bindung fühlt, darum ist sie auch schnell bereit zu gehen. Absatz
Wenn eine Mutter sich mehr Nähe zu ihrer heranwachsenden Tochter wünscht, so sollte sie sich fragen: Habe ich eine Aufgabe, die mir wirklich Freude macht und die mich ausfüllt? Ermögliche ich meiner Tochter Einblick in ein erstrebenswertes Erwachsenenleben? Je mehr eine Frau in ihrer Tätigkeit aufgeht, desto weniger braucht sie ihre Tochter. Erst jetzt ist der Weg frei für echte Liebe und Nähe.
Der entscheidende Satz der Rapunzel verhilft, ein anderes Leben zu führen als ihre Mutter und ihr auch hilft, sich aus der Isolation zu befreien, sind die Worte des Königssohns, als er ruft:
„Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter.” Alsbald fielen die Haare herab, und der Königssohn stieg hinauf. Anfangs erschrak Rapunzel gewaltig, als ein Mann zu ihr hereinkam,..
Dieser gewaltige Schreck ist der Wendepunkt, der ihre Angst zum Verschwinden bringt. Sie öffnet sich, ohne es zu ahnen einem Mann und damit ist der Bann gebrochen. Das ist der Schritt, den eine Frau gehen muss, um die böse Zauberin zu vertreiben. Es ist ihr Schritt ins Leben. Sie muss sich einem Mann öffnen, einen Mann wirklich in ihr Leben lassen. Dieser Entschluss vertreibt ihre Angst. Doch nicht nur sie muss einen neuen Schritt wagen, auch vom Mann wird Initiative verlangt.
Darum erzählt der Königssohn:
„…, daß von Ihrem Gesang sein Herz so sehr sei bewegt worden, daß es ihm keine Ruhe gelassen und er sie selbst habe sehen müssen.”
Er wird aktiv, als seine Sehnsucht ihm keine Ruhe lässt. Er tritt für sich selbst ein und das wiederum erleichtert es Rapunzel, ihr Leben genauso in die Hand zu nehmen. Das Märchen sagt:
Da verlor Rapunzel ihre Angst.
Jetzt ergreift sie die Initiative und ersinnt Strategien, wie sie vom Turm hinab kommen kann. Sie will eine Leiter flechten, und wenn sie fertig ist, will sie hinuntersteigen, und er soll sie auf sein Pferd nehmen. Ein Bild das zeigt, dass sie den Schritt in ein erfülltes Leben geschafft hat.
Doch dieser Plan klappt so nicht. Denn eines Tages sagt Rapunzel zu der Zauberin:
„Sag Sie mir doch Frau Gothel, wie kommt es nur, Sie wird mir viel schwerer heraufzuziehen als der junge Königssohn, der ist in einem Augenblick bei mir.”
Warum dieser Satz? Warum verrät sich Rapunzel selber?
Es scheint, dass sie den Zorn der Frau Gothel geradezu provozieren will, aber warum? Letztendlich macht es ihr den Schritt der Trennung leichter. Wäre sie heimlich mit dem Königssohn gegangen, so hätte sie sich von den Schuldgefühlen, ihre Mutter im Elend zurückzulassen, kaum befreien können. So ist es die Mutter, die ihre Tochter Rapunzel verstößt.
Wenn sich Jugendliche ihren Eltern widersetzen, kann es diesen Grund haben. Wenn Jugendliche sich abnabeln und eigene Wege gehen, so entstehen Schuldgefühle. Manche provozieren nun den Zorn der Eltern, weil es dann leichter ist, mit den Schuldgefühlen fertig zu werden.
Im Märchen schneidet Frau Gothel ihrer Tochter die Haare ab,
… ritsch, ratsch waren sie abgeschnitten, und die schönen Flechten lagen auf der Erde.
Was heißt das? Rapunzel hat wunderschöne lange Haare und die stehen für die weibliche Kraft; die Kraft, die den Garten der Welt zum Blühen bringen kann, die benötigt wird, um ein erfülltes Leben zu führen. Diese Kraft steht der Mutter nicht zur Verfügung. Sie konnte nur davon partizipieren, indem sie Rapunzel ganz für sich beanspruchte. Nun, wo ihr diese Kraft nicht mehr gewährt werden soll, bricht die alte egoistische Zauberin wieder in ihr durch; nun soll auch niemand anderer von dieser Kraft profitieren. Jetzt schneidet sie Rapunzel von dieser Kraft ab, so wie sie selbst ihr Leben lang davon abgeschnitten war.
Was steht nun einer jungen Frau bevor, wenn sie die Stärke aufgebracht hat, sich von einer besitzergreifenden Mutter zu lösen? Wie äußert es sich, wenn ihr im übertragenen Sinn die Haare abgeschnitten werden?
Sie muss sich von einer alten emotionalen Bindung, einem vertrauten Menschen lösen. Sie muss ihre emotionalen Bande neu knüpfen und einen neuen Standort mit anderen Menschen aufbauen. In dieser Übergangszeit ist sie von ihrer urweiblichen Kraft abgeschnitten. Bevor sie sich nicht einen neuen festen Platz geschaffen hat, steht ihr diese Kraft nicht zur Verfügung. Denn es ist eine Kraft, die erst fließen kann, wenn eine Frau in sich ruht, wenn sie ihre Mitte gefunden hat. Bis es soweit kommt, ist um sie herum eine Wüstenei, das Chaos.
Wenn jemand Haare lassen muss, so wird damit auch das Thema Opfer bringen angesprochen. Rapunzel muss ihr altes vertrautes Leben, in dem sie hoch über der Erde, von allen Beschwernissen des Lebens verschont, ganz alleine und isoliert sitzt, opfern. Sie muss es tun, um auf der Erde anzukommen. Im Märchen heißt es
…die schönen Flechten lagen auf der Erde.
Doch bevor ihr neues selbstbestimmtes Leben beginnt, ist zunächst eine schwere Zeit in Jammer und Elend zu bestehen. Rapunzel liegt zunächst am Boden. Ihr Leben hat noch keine Struktur, keine Beziehungen und keinen Rhythmus und ist darum eine Wüstenei; ein trauriges, schwer zu ertragendes Los.
Nicht nur Rapunzel wird vom Zorn der Mutter getroffen. Auch der Königssohn wird in Mitleidenschaft gezogen. So wie die Haare Rapunzels zu Boden fallen, so fällt auch er zu Boden und verliert sein Augenlicht.
Aber die Dornen, in die er fiel, zerstachen ihm die Augen. Da irrte er blind im Wald umher,…
Was bedeutet der Hinweis, dass der Königssohn blind wird? Am Anfang des Märchens wird veranschaulicht, dass die Frau mit ihrer Kraft die Welt in all ihrer Schönheit entstehen lassen kann. Damit kreiert sie die Welt, in der sich der Mann bewegt. Verliert ein Mann seine Frau, so verliert er seine Welt. So wie er seine Frau nicht mehr sieht, so kann er die Welt nicht mehr sehen. Übertragen heißt dies, ein solcher Mann fühlt sich orientierungslos, er irrt wie in einem Wald herum und weiß nicht, welches Ziel er im Leben ansteuern soll.Am Ende des Märchens wird noch mitgeteilt, dass Rapunzel Zwillinge geboren hat. Ein Hinweis darauf, dass sie, anders als ihre Mutter, nun im Gleichgewicht ist. Sie ist den mutigen Schritt aus dem schützenden Haus der Mutter heraus in ihr eigenes Leben gegangen. Rapunzel schafft es, ihr Leben wieder in eine gesunde, in die richtige Richtung zu setzen. Vorher hatte die Mutter einen wichtigen Bereich, nämlich den Garten, aus ihrer Seele abgespalten. Sie hatte nicht gewagt, zur Frau zu werden. Geht aber eine Frau den Schritt wie Rapunzel, befreit sie sich von der Macht der Mutter und wagt es, einen Mann in ihr Leben zu lassen, dann öffnet sich ihr ein erfülltes weibliches Leben.
Rapunzel hat es aus eigener Kraft geschafft, ihr Leben blühen und gedeihen zu lassen. Sie hat sich von der Mutter abgenabelt, einen Mann gefunden, hat ein eigenständiges Leben aufgebaut und am Ende zwei Kinder geboren. Das Leben Rapunzels mit seinem erfolgreichen Ende ist ein sehr praktischer Wegweiser für Mütter, Töchter und Männer, die auf der Suche nach Lösungen für ein kraftvolles und selbstbestimmtes Leben in Fülle sind.